2014. Mit seinem „Freiheitsmarsch“ treibt der Cricket-Altstar Imran Khan Pakistans Regierung in die Enge.
In „Lagaan“, dem erfolgreichsten indischen Film aller Zeiten, heckt der britische Kolonialoffizier Captain Russell – man schreibt anno 1893 – einen teuflischen Plan aus. Er bietet den Bewohnern eines bettelarmen, von einer Jahrhundertdürre gebeutelten Dorfes eine Wette an: Wenn die Dorfgemeinde die Cricketmannschaft seines Regiments schlägt, erlässt der Captain ihr für drei Jahre alle Steuern. Sollten die Dörfler jedoch verlieren, wird die Steuer verdreifacht. Muslime, Sikhs und Hindus und sogar ein „Unberührbarer“ – er entdeckt, dass er über eine phänomenale Wurftechnik verfügt – raufen sich daraufhin zu einer Mannschaft zusammen und bringen sich das ihnen völlig unbekannte Spiel bei. Bei dem sich über drei Tage hinziehenden Match gegen die versierten Briten gerät das Dorfteam in einen hoffnungslos erscheinenden Rückstand. In allerletzter Sekunde jedoch wächst die Dorfgemeinschaft über sich hinaus und bezwingt den Gegner.
Cricket ist auch fast 70 Jahre nach dem Abzug der Briten der Kultsport Nr.1 in Südasien. Millionen fiebern vor den Fernsehern mit, wenn ihre Nationalmannschaft im Stadion einläuft, die Namen der Stars und Mannschaftskapitäne sind jedem Kind geläufig. Imran Khan – größter Cricket-Allrounder in der Sportgeschichte des Landes – stand in den 70er und 80er Jahren für ein anderes, selbstbewusstes und erfolgreiches Pakistan. Als mehrfacher Kapitän der Nationalmannschaft genoss der blendend aussehende und mediengewandte Khan den Glamour eines Pop-Stars.
Der Freiheitsmarsch
1996 beschloss Khan, in die Politik zu gehen und gründete die „Pakistanische Gerechtigskeitsbewegung“ PTI (Pakistan Tehreek-e-Insaf), eine neoliberal-demokratische, jedoch auch islamischen Werten verpflichtete Partei. Nach langer Durststrecke gelang der PTI bei den Parlamentswahlen im Mai 2013 ein Achtungserfolg, doch zur Beteiligung an der Regierung langte es nicht. Dass der Polit-Altprofi Nawaz Sharif – der „Löwe des Punjab“ – die Wahlen gewann, war keine Überraschung. Doch erstaunte die Höhe des Wahlsieges sogar die Eingeweihten. In der Tat verzeichnete die pakistanische Wahlkommission Unregelmäßigkeiten bei der Durchführung der Wahlen. Imran Khan stellte ein Dossier der Verfehlungen zusammen, um das Wahlergebnis anzufechten, doch Regierung und Oberstes Gericht zeigen sich hartleibig. Khan konterte mit der Ankündigung eines Protestmarsches in die Hauptstadt Islamabad. Seine Forderung: sofortiger Rücktritt der Regierung und Neuwahlen.
Eine Million Bürger will Khan mobilisieren, als er am 14. August 2014, dem Unabhängigkeitstag, mit seinem „Azadi march“ in Lahore an den Start geht. Ein Mitstreiter meldet sich: der Kleriker Muhammad Tahir-ul-Qadri mit seiner Partei Pakistan Awami Tehreek (PAT) kündigt einen parallelen „Inqilab march“ an. Obwohl es zunächst nach Synergie aussieht, kommt es zu keiner Vereinigung beider Aktionen. Dennoch spielen sich Khan und Qadri die Bälle zu und erhöhen damit den Druck auf Nawaz Sharif und seine Hausmacht, die Muslimliga PML-N.
Die Medien des Landes sind gespalten: Zwar habe die Bevölkerung Gründe genug zur Unzufriedenheit, doch viele wittern die Torschlusspanik eines frustrierten Politikers, der über den Umweg der Straße ins Amt kommen will. Khan wirkt auch mit knapp 62 Jahren noch erstaunlich jugendlich, doch ist er nach pakistanischen Maßstäben bereits im Rentenalter. Sollte er bei den nächsten Wahlen gewinnen – was keineswegs gesichert ist – ginge er auf die 70 zu. Die Menschenmenge hinter Imran Khan schwillt auf beeindruckende Weise an, auch Qadri kann Zehntausende auf die Straße bringen. Beide sind rhetorische Talente, wissen ihr Anliegen zündend „rüberzubringen“ und schwören ihre Anhänger auf einen langen Kampf ein. Vereinzelte Polizeiübergriffe und Angriffe von Sharif-Anhängern können abgewehrt werden, ohne dass die Lage zunächst weiter eskaliert.
Hundertausende folgen dem Aufruf, die Bewegung greift auch auf Karachi über. Um den „Minar-e-Pakistan“ – das nationale Wahrzeichen – in Lahore scharen sich rund 750.000 Demonstranten. In Islamabad sorgt sich die Regierung um das Eindringen der Protestbewegung in die „Red Zone“, in die Bannmeile. Einige Hitzköpfe versuchen in das „Prime Minister’s House“ einzudringen, andere besetzen einen Fernsehsender. Prediger Qadri mahnt zum friedlichen Vorgehen. Die Regierung zeigt sich beeindruckt von der politischen Kraft der PTI und bietet Gespräche an, doch geht sie nicht auf die Forderung Khans nach Annullierung der Wahlen ein.
Imran, der Medien-Star
Imran Khan findet in seine alte Rolle zurück, begeistert als Kommunikator und Pop-Star die Massen. Die Schattenseiten der Aktion rücken in den Hintergrund. Geschäfte müssen tagelang geschlossen bleiben, Tagelöhner finden keine Arbeit, die Schulen kommen mit ihrem Lehrplan aus dem Tritt. Die Verluste für Pakistans Wirtschaft belaufen sich mittlerweile auf Milliarden Rupien in dreistelliger Höhe. Der von der PTI ausgegebene Slogan ‚Go Nawaz, Go!‘ bürgert sich ein, wird täglich skandiert, auch als Abkürzung ‚GNG‘. #GoNawazGo wird zu einem der meistbenutzten hashtags des Jahres. Selbst als Sharif in die USA fliegt, um an der 69. Vollversammlung der UN teilzunehmen, wird er vor dem UN-Gebäude von Demonstranten empfangen, die ihm den Slogan entgegenrufen.
Die Regierung sieht sich nicht nur in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt, sie hat der täglichen Show nichts entgegenzusetzen. Die Live-Übertragung der Auftritte Imran Khans werden zu einem eigenen Format, zur täglichen Soap Opera, die die Leute am Feierabend im Kreise der Familie genießen. Die kritischen und spöttischen Anwürfe gegen die Herrschenden sowie die Intermezzi mit der Musik von DJ Butt sind ein Medienereignis. Gastauftritte von Promis verleihen dem Ereignis zusätzlichen Unterhaltungswert. Kinder singen die Songs auswendig mit, bevor sie zu Bett gehen. Die Fernsehsender verzeichnen ein Hochschnellen der Einschaltquoten.
Ein neues Gefühl, Pakistani zu sein
Viele Bürger des Landes zeigen sich der alten Parteien PPP und PML-N, – die sich in den letzten Jahren an der Macht abgewechselt hatten – überdrüssig. Keine Regierung hat bisher die Probleme des Landes lösen, vor allem nicht der politisch und religiös motivierten Gewalt Einhalt gebieten können. In Belutschistan sind die schiitischen Hazara Zielscheibe von Anschlägen sunnitischer Fundamentalisten, in Khyber Pakhtunkhwa sind es die Christen. In Karachi hat das Unwesen der „targeted killings“ wieder zugenommen sowie die Zusammenstöße zwischen den politischen Parteien mit ihren bewaffneten Truppen. Die massiven Angriffe auf den Internationalen Flughafen Karachi im Juni 2014 forderten nicht nur über 40 Tote sondern machten deutlich, wie weit der Einfluss von talibanaffinen Gewalttätern inzwischen in die Gesellschaft hineinreicht. Der Überdruss hat sich auf das Parlament und das ganze politische Establishment übertragen. Sogar Leute, die das Interesse am Fernsehen verloren hatten, schalten wieder ein, um das Neueste von Imran Khan zu erfahren. Die eingefleischten Fans spekulieren, welches Outfit ihr Idol am Folgetag tragen wird, ob einen weißen oder schwarzen ‚Shalwar kameez‘ – die traditionelle Männerkleidung Pakistans. Auch Auslandspakistanis sind auf die Ereignisse aufmerksam geworden, verabreden sich in England oder Kanada mit Freunden und Kollegen in Pubs oder Restaurants um die Ereignisse in der Heimat am Fernseher mitzuverfolgen.
Imran Khan hat – unabhängig von ihrem jeweiligen weltanschaulichen Standpunkt – Millionen von politikverdrossenen Pakistanis im In- und Ausland dazu gebracht, sich wieder intensiv über die Verhältnisse im Lande auszutauschen, etwas, was keinem anderen Politiker in den letzten Jahren gelungen ist. Ein politisch-medialer Aufbruch im – was die pakistanischen Communities in Übersee betrifft – globalen Sinn.
Manuel Negwer (zuerst im Blog von Der Freitag 4. Oktober 2014)