Der Klang der Freiheit
Hans-Joachim Koellreutters Flucht von Berlin nach Rio de Janeiro
Rio de Janeiro, am 16. November 1937 – der Überseedampfer Augustus der italienischen Reederei Società di Navigazione – Flotte Riunite legt im Hafen der brasilianischen Hauptstadt an. Von Bord kommt ein 22jähriger Deutscher, der zwei Wochen zuvor in Genua an Bord gegangen war. Es ist Hans-Joachim Koellreutter, Musikstudent aus Berlin, aus politischen Gründen von der Musikakademie relegiert und auf der Flucht vor der NS-Diktatur. Das Regime hat den jungen Musiker bereits seit längerem im Visier, insbesondere nachdem er in Berlin mit einigen Kommilitonen den Arbeitskreis für Neue Musik gründete, der sich dem Kampf der Nazis gegen die als „Entartete Kunst“ verfemte Avantgarde widersetzt. Koellreutter hatte bereits vorher eine Solidaritätsadresse für den verfemten Komponisten Paul Hindemith unterzeichnet und sich obendrein geweigert, der NS-Studentenschaft beizutreten, was ihn endgültig als Regimegegner ausweist.
Den letzten Anstoß zu seinem Entschluss, der Heimat den Rücken zu kehren, liefert dem jungen Mann ausgerechnet die eigene Familie. Als er sich mit der jüdischstämmigen Kindergärtnerin Ursula Goldschmidt verlobt, trifft ihn der Bannstrahl seiner Stiefmutter, die ihn bei der Gestapo anzeigt. Der damals gültige Straftatbestand: „Rassenschande“.
Koellreutters Spielraum wird immer enger: Politisch bereits in Ungnade gefallen, sieht er sich nun auch privat in eine ausweglose Lage gedrängt. Eine Konzerttournee mit Darius Milhaud führt schließlich zum Ausschluss aus der Reichsmusikkammer. Doch weist ihm die Begegnung mit dem französischen Komponisten unverhofft einen Ausweg aus seiner Not. Der aus einer jüdischen Familie stammende Milhaud erkennt schnell die bedrohliche Lage, in der sich Koellreutter befindet und rät ihm, nach Brasilien zu gehen. Milhaud hat vor zwanzig Jahren als Botschaftssekretär in Rio de Janeiro gearbeitet, kennt die dortige Musikszene und ist mit Heitor Villa-Lobos, dem berühmtesten brasilianischen Komponisten, eng befreundet. Er stellt Koellreutter dem brasilianischen Botschafter in Budapest vor, der ihm die für eine Einreise nach Brasilien nötigen Papiere ausstellen lässt. Milhaud gibt ihm ein Empfehlungsschreiben an Villa-Lobos mit. Koellreutter beschließt, direkt nach Genua zu fahren, um das nächste Schiff nach Rio de Janeiro zu nehmen.
Mit der Machtergreifung Hitlers am 30. Januar 1933 in Berlin begann der Exodus eines großen Teils der jüdischen Bevölkerung und vieler oppositioneller Intellektueller, Künstler und Wissenschaftler. Ging diese Abwanderung aus der NS-Diktatur zunächst in die Nachbarländer, so befürchteten nicht wenige Flüchtlinge – in realistischer Einschätzung der weiteren Entwicklung – die baldige militärische Expansion des Hitlerregimes. Sie versuchten daher, in weiter entfernte Länder zu gelangen, in die USA, nach Palästina oder nach Südamerika. Hier wurden vor allem Argentinien und Brasilien mit ihren großen jüdischen Gemeinden in Buenos Aires und São Paulo zu wichtigen Zielländern. Aber auch das entlegene Chile und das ärmere Bolivien nahmen für ihre Verhältnisse eine erhebliche Zahl von Emigranten auf.
Rund 25.000 Flüchtlinge aus dem „Dritten Reich“ konnten sich nach Brasilien retten und blieben auch nach dem Krieg vielfach in dem Land. Der Prominenteste unter ihnen war der Schriftsteller Stefan Zweig, der 1940 nach Brasilien kam, nachdem er zunächst 1934 nach Großbritannien emigriert war. Den meisten Geflüchteten gelang es, sich eine neue Existenz aufbauen. Ob in Wirtschaft und Handel, Lehre und Wissenschaft oder in der Kulturszene: Der Beitrag der Emigranten aus Deutschland und Österreich zur brasilianischen Gesellschaft war von nicht zu unterschätzender Bedeutung und nachhaltiger Wirkung.
Der Komponist und Flötist Hans-Joachim Koellreutter war einer von vielen Tausend Zuflucht Suchenden, die sich nach dem Neuanfang auf brasilianischem Boden mit ihren Fähigkeiten in die zunächst noch fremde Gesellschaft einbringen konnten. Er hatte noch sein Musikstudium in Berlin, Genf und Budapest abschließen können, bevor er sich zur Flucht aus dem NS-Staat gezwungen sah. So brachte er die von Arnold Schönberg und seiner Wiener Schule geprägte Klangwelt der musikalischen Avantgarde nach Brasilien, die dort vorher allenfalls vom Hörensagen bekannt war. Fernab des Zugriffs der nationalsozialistischen Machthaber konnte der junge Komponist sich nun ganz der Neuen Musik widmen. Mit dem kurz nach seiner Ankunft in Rio de Janeiro gebildeten Musikerkreis Musica Viva schuf er sich die Grundlage für den Neuanfang in der neuen Heimat.
Koellreutters pädagogische und publizistische Aktivitäten entfalten bald eine unerwartet nachhaltige Wirkung. Zahlreiche angehende oder bereits etablierte Komponisten Brasiliens nehmen an den von ihm abgehaltenen Vorträgen, Kursen und Veranstaltungen teil oder werden zu seinen Schülern. Bis wenige Jahre vor seinem Tod im Jahre 2005 widmet sich Koellreutter seiner Lehrtätigkeit, die er auch während seiner Zeit als Leiter der Goethe-Institute in Neu-Delhi, Tokio und Rio de Janeiro ausübt. Mindestens zwei Generationen brasilianischer Komponisten, Musikpädagogen und Interpreten sind von ihm und seinen Ideen inspiriert und geprägt worden.
Sein kompositorisches Werk gleicht einer der alten Weltkarten, mit denen sich die frühen Entdecker und Seefahrer in den ihnen noch neuen Meeren und Gefilden zu orientieren suchten. Das Frühwerk, das von der Schönbergschule geprägt ist, weist bemerkenswerte Kreationen wie „Musica 1942“ für Klavier und die „Kammersinfonie“ für elf Instrumente auf. Die sich daran anschließenden Erfahrungen Indiens und Japans führen zu integrierten Besetzungen mit westlichen und jeweils indischen oder japanischen Instrumenten wie in „Sunyata“ und „Advaita“. Der „Tanka-Serie“ liegt die Auseinandersetzung mit der über 1000 Jahre alten japanischen Tanka-Dichtung zugrunde.
Sein letztes großes Opus führt Koellreutter zurück in seine Wahlheimat Brasilien: Die Oper „O Café“ nach einem vorher nicht vertonten Libretto des großen Dichters und Erzählers des brasilianischen Modernismus, Mário de Andrade, die die sozialen Kämpfe der 1930er Jahre um die Kaffeeproduktion thematisiert, verweist zugleich auf die Zeit von Koellreutters Ankunft in Rio de Janeiro, womit sich ein Lebenskreis schließt.
Hans-Joachim Koellreutters Nachwirkung auf die Musikwelt Brasiliens ist auch nach seinem Tod im Jahr 2005 nicht abgeebbt: Es vergeht kaum ein Jahr, ohne dass dort neue Diplomarbeiten, Dissertationen oder Essays über Koellreutter erscheinen. In Deutschland hingegen ist sein Name weitgehend verblasst und allenfalls noch in einschlägigen Musiklexika oder auf Websites von lateinamerikakundigen Musikjournalisten zu finden. So ist es ein Anliegen dieser Abhandlung, dem deutschsprachigen Leser Leben und Wirken von Hans-Joachim Koellreutter näher zu bringen, dessen fast 70 Jahre lang währende Tätigkeit als Lehrer, Komponist, Kulturmanager, Essayist und Moderator für den Kulturaustausch mit Lateinamerika von ebenso unschätzbarer wie bleibender Bedeutung ist.
Manuel Negwer