In Pakistan, wo der Staat Kultur und Bildung gerne dem Wohlwollen von Mäzenen überlässt, mangelt es nicht an Betätigungsfeldern für Philanthropen
Vergangenheit mit Swing
Orchestral gesetzte Evergreens wie Take Five, Eleanor Rigby und Desafinado im weltmusikalischen Pop-Jazz-Stil: das ist nicht das, was man als allererstes aus Pakistan erwarten würde. Und doch schafft es das Sachal Jazz Orchestra bei seinen Auftritten jedes Mal, die regelmäßig von Bombenanschlägen, Massakern und Blasphemie-Morden kündenden Schlagzeilen für die Dauer eines Konzertes vergessen zu lassen. Spiritus rector dieses an ein Wunder grenzenden Projektes ist der aus Lahore stammende Unternehmer Izzat Majeed, der in Großbritannien sein Glück machte, bevor er in seine Heimatstadt zurückkehrte, um sich seinen Jugendtraum zu erfüllen. Lahore, die altehrwürdige Kulturmetropole Pakistans, war bereits in altindischen Zeiten ein Zentrum der Architektur, der Künste und der islamischen Gelehrsamkeit. Hier schufen die kunstsinnigen Moghul-Herrscher ein einzigartiges architektonisches Ensemble, hier begann der Dschungelbuch-Autor Rudyard Kipling – dessen Vater Leiter der dortigen Kunstakademie war – zu schreiben und hier entstand nach der Teilung Indiens im Jahr 1947 die Lollywood-Filmindustrie. Die anderen Künste zogen nach und so wurde Lahore auch zum Zentrum von Filmmusik, Tanz und Jazz. Weltstars wie Louis Armstrong, Duke Ellington, Ella Fitzgerald und Miles Davis wurden bei ihren Gastspielen in dem aufstrebenden Schwellenland der 50er und 60er Jahre bejubelt. Die Einheimischen folgten ihrem Beispiel: in Karachi waren es vor allem die aus dem ehemals portugiesischen Goa stammenden Zuwanderer, die den Jazz pflegten. Der Zufall wollte es, dass Duke Ellingtons Alt-Saxophonist Paul Gonsalves auf einen lokalen Namensvetter traf – der ebenfalls Alt-Saxophon spielte. Die beiden Pauls jammten dann Seite an Seite unter der Leitung des verblüfften Duke Ellington.
Kahlschlag der Kultur
Tempi passati, eines von vielen nostalgischen Albumblättern aus einer postkolonialen Vergangenheit, in der die sich zwischen religiösen, politischen und ethnischen Konflikten zerrissene Nation wiederzufinden sucht. Doch ließ dies Izzat Majeed keine Ruhe: „Als ich acht oder neun war, erlebte ich Duke Ellington, Dizzy Gillespie und Dave Brubeck in Lahore, all diese Giganten, die mich für den Jazz begeisterten, genauso wie meinen Vater. Mein Vater war immerhin ein begabter Amateurmusiker und begann irgendwann, Filme zu drehen, in denen immer gute Musik vorkam.“
Als General Zia-ul-Haq am 5. Juli 1977 die Regierung Zulfikar Bhutto wegputschte, brach eine Welt zusammen: Der neue Diktator kündigte eine schonungslose Islamisierung des öffentlichen Lebens an, mit der Scharia als für Politik und Justiz verbindlicher Leitlinie. Westliche Kultur und Pop-Musik fielen in Ungnade: Der nationale Fernsehsender PTV durfte allenfalls noch patriotische Lieder senden, die Filmindustrie wurde mit willkürlichen Strafsteuern in den Ruin getrieben und Kinos mussten reihenweise schließen. Die Einkommensbasis der einheimischen Musiker brach weg und auch der vom Hinduismus inspirierte und traditionellerweise von Frauen ausgeübte Kathak-Tanz fiel unter den Bann. Das landesweit erlassene Alkoholverbot rundete die Schließung aller Vergnügungsetablissements ab.
Kahlschlag und Zensur trieben unzählige Künstler und Intellektuelle ins Ausland, darunter auch Izzat Majeed, der eine Karriere in der Finanzwelt antrat – wider Willen, dennoch mit durchschlagendem Erfolg. Als Chef einer in London stationierten Investmentfirma kaufte er die Union Bank und machte sie zu einer der führenden Banken Pakistans. Doch sein ganzes Herz gehörte nach wie vor der Musik und der Poesie: Als die Zeit reif war, eröffnete Majeed mit Unterstützung des legendären Abbey Road Studios sein Sachal Studio in Lahore, das zu einem neuen musikalischen Gravitationszentrum im Lande wurde. Er trommelte die früher in der Filmindustrie beschäftigten Musiker zusammen, kaufte ihnen neue Instrumente und vereinigte sie zu einem Orchester. Sowohl Studio wie Orchester taufte er nach Sachal Sarmast, einem Sufi-Poeten des 18. Jahrhunderts.
Vielversprechender Neuanfang
Viele der älteren Musiker brauchten eine Weile, um sich wieder in ihrer Rolle einzufinden, denn die meisten von ihnen hatten 20, 30 Jahre lang nicht mehr gespielt. Einige hatten es während dieser Zeit nicht einmal gewagt, zu Hause zu üben, aus Furcht, bei fundamentalistischen Nachbarn Anstoß zu erregen. Doch machte sich die intensive Probenarbeit unter Majeeds Leitung bald bezahlt: Bereits die erste CD des Sachal Studio Orchestra kommt in die Charts. Das Highlight dieser ersten Produktion war der Standard Take five, der Majeed in seiner Jugend so fasziniert hatte. Bei Youtube wurde die pakistanische Take five-Version rasch zum Hit. Sogar Alt-Meister Dave Brubeck lobte die Version des von seinem damaligen Saxophonisten Paul Desmond komponierten Hits noch kurz vor seinem Tod im Dezember 2012: “Dies ist die interessanteste und originellste Aufnahme von Take Five, die ich jemals gehört habe.”
Als der Hintergrund des Orchesters medial bekannt wird, drängen sich Parallelen zu den kubanischen Musikern des Buena Vista Social Club auf. Majeed setzt weiterhin auf einen Mix aus Veteranen und aktiven Profi-Musikern. So arbeitet Ustad Nafees Ahmad, der in der Video-Version das mitreißende Intro von Take Five auf der Sitar spielt, als Leiter der Musikabteilung der angesehenen National Academy of Performing Arts in Karachi. Das Repertoire reicht von Stevie Wonder’s You’ve Got it bad girl über Henry Mancinis The Pink Panther, Blue Rondo a la turk von Dave Brubeck bis zu Beatles-Klassikern und Bossa Nova-Standards. Internationale Einladungen ließen nach dem erfolgreichen Debut nicht lange auf sich warten: Kein geringerer als Star-Trompeter Wynton Marsalis lud Majeeds Musiker in die USA ein, wo sie im New Yorker Lincoln Center vor ausverkauftem Haus auftraten.
Vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen mit dem islamistischen Zia-Ul-Haq-Regime sieht Majeed die Reislamisierung des Nahen Ostens und Pakistans mit ebenso kritischen Augen wie das Verhalten konservativer muslimischer Migranten in Europa: „Islamophobie ist in Europa sehr ausgeprägt und es gibt auch keinen Grund, warum es nicht so sein sollte. Warum verstehen manche Muslime nicht, dass sie sich in einem anderen Land anpassen müssen? Falls dies nicht geht, sollten sie besser weiterziehen. Wenn man jemanden zu Hause besucht, drängt man ihm ja auch nicht seine ‘kulturellen Werte’ auf. Wir genießen alle Freiheiten, die uns der Westen bietet und dennoch erregt dies unseren Zorn.“
Eine Herausforderung muss Majeed noch meistern, nämlich den Brückenschlag zur jungen Generation. „Ich finde keinen einzigen Pianisten in Lahore, vermutlich nicht einmal in ganz Pakistan, ich meine jetzt, einen wirklichen Pianisten“, sagt Majeed. „Einige kommen daher und behaupten, dass sie spielen können, aber sie spielen ganz fürchterlich. Sie wissen gar nicht, was ein Klavier in Wahrheit ist. Und Blechbläser gibt es überhaupt keine mehr, das Blech ist tot.“
In einem Land, in dem Kultur und Bildung gerne dem Wohlwollen von Mäzenen überlassen werden, wird es Izzat Majeed so schnell nicht langweilig werden.
Manuel Negwer (zuerst im Blog von Der Freitag 26. September 2014)