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Siegfried Behrend – Stationen

Siegfried Behrend und das Goethe-Institut – Kulturprojekt Deutschland

Das Land, das einst die Welt mit den Meisterwerken Bachs, Beethovens und Brahms‘ in Erstaunen versetzt hatte, vertrieb schließlich – vom Rassenwahn befallen – die Elite seiner Musiker in alle Himmelsrichtungen. Kein Wunder, dass es in den auf den Zusammenbruch folgenden Jahren unfähig war, über seine eng gewordenen Grenzen hinaus eine wahrnehmbare kulturelle Außenwirkung zu entfalten. Auch wenn Kaugummi, Lucky Strike, Schokolade oder Nylonstrümpfe die dringendste Befriedigung der Lebenslust sicherstellten, so erwiesen sich andere Importgüter als segensreicher für die werdende Bundesrepublik: die wiedergewonnene Gedankenfreiheit, freie Wahlen, ein neues Parlament namens Bundestag und vieles mehr. Auch durch die Musikszene wehte bald wieder eine frische Brise, als sich junge internationale Avantgardisten wie Pierre Boulez, Luigi Nono, Bruno Maderna, Mauricio Kagel, Györgi Ligeti – schließlich der anarchische John Cage – in Darmstadt und Donaueschingen zu tummeln begannen.

Siegfried Behrend gehörte als 1933 Geborener nicht mehr der Generation der aktiven Kriegsteilnehmer an, er hatte jedoch zwangsweise „Anteil“ genommen an den Schrecken des Krieges, die bei der Eroberung seiner Heimatstadt Berlin noch einmal zu einem mörderischen Feuersturm kulminierten. Die Davongekommenen stellten sich den endlosen Ruinenlandschaften mit nüchterner Erwartungslosigkeit und bezogen ihre Überlebenskraft nicht zuletzt aus immateriellen Gütern: das kulturelle Welterbe hatte den Holocaust und die Bombenteppiche überstanden, hatte sich als weitaus stärker, vitaler und widerstandsfähiger erwiesen als es sich die braunen Horden mit ihrer zusammengezimmerten Gewaltideologie, die auf dem vielzitierten Müllhaufen der Geschichte gelandet war, je hätten träumen lassen. Siegfried Behrend sprach äußerst selten von den Schrecken des Kriegs, doch stammte sein lebenslang unüberwindliches Misstrauen gegenüber den selbsternannten Menschheitserlösern jedweder Couleur, seine abgrundtiefe Verachtung der Militärtechnokraten aus jener traumatischen Zeit. Und er konnte rigoros sein: Als er eines Tages in einem Programmheft eine Rundfunksendung über kubanische Revolutionsmusik unter dem Titel „Meine Gitarre ist mein Gewehr“ angekündigt las, war er wütend, aus tiefster Empörung heraus zornig, eine Gefühlsregung, die er ansonsten stets zu beherrschen wusste. Nicht einmal als Metapher duldete er den Einbruch der unseligen Kriegswerkzeuge in den geschützten Bereich des Kreativen. Ihm wurde die Gitarre auf ganz andere Weise zu einem Werkzeug, zu einem Schlüssel, der Zugang zu anderen, besseren, unbekannten, geheimnisvollen Welten versprach.

Das Instrument, das in deutschen Landen bislang eher ein Mauerblümchendasein gefristet hatte, war in den 50er Jahren urplötzlich zum Faszinosum aufgestiegen. Als Instrument des Rock ’n Roll versprach es Freiheit und Erotik, als Requisit mediterraner Lebensfreude symbolisierte es Fernweh und Sinnlichkeit, kündete auf dem Scheitelpunkt der Schmalzwelle – „Freddie, die Gitarre und das Meer“ – von salzigen Brisen, Wellenschlag und tropischen Stränden. Der junge Siegfried Behrend zelebrierte die „Stunde Null“ auf der Gitarre, erschuf sie sich gewissermaßen neu, und folgte dabei nicht den Großmeistern der spanisch-romantischen Richtung sondern entwickelte ein Klangideal, das eher an das Bauhaus denn an Tárrega gemahnte: sachlich, funktional, von gläserner Klarheit. Man erkannte Siegfried Behrend auch im Ausland rasch als nicht alltägliche Erscheinung, die stets zu überraschen wusste. So schien sein auf den ersten Blick eher nüchternes Erscheinungsbild nicht so recht kompatibel mit seinem Instrument, das man doch eher in den Händen eines jugendlichen Rebellen in Jeans erwartete. Und dann noch im Frack. Eine Gitarre im Konzertsaal? Ein Gitarrespieler aus Deutschland? Doch, ich weiß schon … der eifert doch diesem . . .na, wie heißt nochmal dieser berühmte Spanier? . . . dem eifert er nach, jawohl! Die Erwartungshaltung wird nach einem erstaunten Blick ins Programm, spätestens nach dem Erklingen der ersten Töne ein zweites Mal durchbrochen: Keine feurigen Klänge aus dem Süden, weder zirpende Schrammelmusik, noch schmachtende „La Paloma“, weder tümelnde Schuhplattler noch plüschige Schlaggitarrenklänge füllen den Saal sondern der silbrige schwebende Klang eines kostbaren Instrumentes, dessen spartanische Schmucklosigkeit den mannigfaltigen Gitarrenklischees keinen Raum lässt.

Max Mueller Bhavan, Doitsu Bunka Senta, Sociedade Teuto-Brasileira, Asociación Cultural Humboldt, Instituto Cultural Boliviano-Alemán… Nicht immer sind die Zweigstellen des Münchner Goethe-Institutes auf Anhieb als solche zu identifizieren, zu unterschiedlich sind die rechtlichen oder politischen Gegebenheiten in den Gastländern, die mitunter zu einer von der „corporate identity“ abweichenden Namensgebung zwingen. So verwies der in Indien landesweit bekannte Indologe Max Mueller Goethe als Namenspatron auf die Plätze, und auch in Venezuela setzte sich der lateinamerikakundige Universalgelehrte Alexander von Humboldt gegen ihn durch. Was sich heute als beeindruckendes Netzwerk von weltweit 159 Instituten in 98 Ländern darbietet, begann unter bescheidenen Vorzeichen: 1951 kam es zur Gründung des Goethe-Instituts in München, ein zartes Pflänzchen, das die organische Verflechtung Deutschlands mit der Welt wiederherstellen und dazu beitragen sollte, die Identität der schwer beschädigten Kulturnation zu reparieren. Das in vielen Ländern Europas als Sprache der Vergewaltigung und Unterdrückung verhasste Deutsch sollte in die Obhut der Literatur, Philosophie und Wissenschaft zurückgeführt werden. Eine erste Unterrichtsstätte entstand 1953 in Bad Reichenhall. Doch was sollte, konnte, durfte man der Welt noch an „deutschem Wesen“ zumuten? Waren die Wunden nicht zu frisch, die Ressentiments nicht zu dünnhäutig? Erste Zweigstellen im Ausland wurden eröffnet, die sich bereits der Kulturvermittlung annahmen: Athen, Turin, Beirut und Damaskus. Es sollten noch viele folgen, und so schließen die in unseren Tagen hinzugekommenen Kulturinstitute in Rangun, Kinshasa, Nowosibirsk und Luanda den Kreis, den das Goethe-Institut mit seinem Netzwerk inzwischen um den Erdball gelegt hat.

Besonders die Musik schien ein ideales Medium, um in den Dialog der Kulturen einzusteigen, konnte sie doch Menschen nonverbal miteinander verbinden, ohne dass die Gefahr von Missverständnissen entstand. Auch war hier ein Rest von Weltgeltung selbst in den schlimmsten Jahren nie vollends verblasst, und originelle, unverbrauchte und unternehmenslustige junge Musiker konnten auf eine Chance hoffen. Und Siegfried Behrend erkannte rasch diese Chance und ergriff sie, in dem Bewusstsein, dem Goethe-Institut etwas unvergleichbar Wertvolles anbieten zu können: Seine Kreativität, seine Neugierde, seine vorurteilslose Offenheit gegenüber dem Reichtum der Weltkulturen. Und natürlich sein unerhört agiles, flexibles und kurzweiliges Musikantentum, dessen künstlerischen Fundamente bei aller Leichtigkeit eben doch in der jahrhundertealten europäischen Musikkultur, bei Monteverdi, Dowland, Weiss oder Milan, in den Tabulaturen und Spielbüchern der Lautenisten und Troubadoure wurzelten. Im Gegenzug verhalf ihm das Goethe-Institut mit seinen weitgesponnenen Verbindungen zu einem Wirkungskreis, der auch heute noch jeden Musiker vor Neid erblassen lässt. So entstand eine gleichberechtigte Partnerschaft, denn Behrend hatte nicht nur das Zeug zum Kulturmanager, er war selbst einer und zweifellos ein sehr effizienter. Der Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut kam dies immer wieder zugute, denn er brachte seine Kontakte zur Musikwelt in die Arbeit mit ein. Etwa als das Goethe-Institut Rom 1969 an Sylvano Bussotti einen Kompositionsauftrag vergab: Ergebnis war die „Ultima rara“, wiederum Siegfried Behrend gewidmet und von ihm uraufgeführt. Oder das von den Goethe-Instituten in Brasilien 1975 ausgelobte und von Siegfried Behrend organisierte Preisausschreiben für Gitarrekompositionen. Dass Jorge de Freitas Antunes – sein Stück „SIGHS“ wurde damals mit dem 1.Preis ausgezeichnet – inzwischen zu den erfolgreichsten brasilianischen Komponisten nach Villa-Lobos gehört, bestätigt das ganze Unternehmen im Nachhinein auf eindrucksvolle Weise. Besonders fruchtbar war die Zusammenarbeit stets, wenn Siegfried Behrend auf kongeniale Institutsleiterpersönlichkeiten traf, die sich nicht als Kulturverwalter sondern als Mitgestalter von innovativen Projekten verstanden.

Doch wie sah der Alltag des Goethe-Reisenden Siegfried Behrend aus? Ein Beispiel aus dem Herbst 1976: Schauplatz Südkorea, Seoul und Umgebung, turbulente Millionenmetropole mit ungezählten Musikliebhabern und Musikern, die sich der westlichen Musik verschrieben haben:

  • Dienstag, 12.Oktober, 14.00 – 17.00 Uhr Workshop am CBS-Institute: Rhythmische Studien für Gitarre
  • Mittwoch, 13.Oktober, 14.00 – 17.00 Uhr Workshop am Goethe-Institut Seoul: Rhythmische Studien für Gitarre
  • Donnerstag, 14.Oktober, 14.00 – 17.00 Uhr 2. Workshop am CBS-Institute: Rhythmische Studien für Gitarre
  • Freitag, 15.Oktober, 19.00 Uhr Konzert an der Ehwa Girls High School Seoul
  • Samstag, 16.Oktober, 19.00 Uhr Konzert am Kulturinstitut Chuncheon, Provinz Kangwon
  • Montag, 18.Oktober, 19.00 Uhr Konzert an der Keimyung Universität
  • Mittwoch, 20.Oktober, 19.00 Uhr Konzert in der City Hall in Pusan
  • Donnerstag, 21.Oktober, 19.00 Uhr Konzert in der City Hall in Kwangju

Wer sich ein derartiges Programm vornimmt, muss genau wissen, was er sich zumuten kann. Die durch Jet-lag, klimatische Unterschiede und bei aller Faszination doch auch stets risikobehaftete Umstellung der Ernährung sind Unwägbarkeiten, die kaum zu bemessen sind, vor allem im Zusammenwirken mit einer straffen Zeitplanung und der Notwendigkeit, künstlerisch stets in Hochform zu bleiben. Wenn die Konzertprogramme von Siegfried Behrend aus den 60er und 70er Jahren aus der heutigen Perspektive mit ihrer hohen Spezialisierung mitunter wie der vielzitierte Bauchladen anmuten, so wird auf den zweiten Blick deutlich, dass sie wie ein Brennglas des damaligen Spektrums fungieren und es darüber hinaus ergänzen. Das Angebot, das Behrend präsentierte, hatte ja stets auch den Charakter des Probierens, des Ertastens, der Annäherung an neue Klangerfahrungen. Offenheit als Prinzip, die Tugend der Variation, die in Form von Bearbeitung, Skizze, Studie, altbekannte Elemente mit Neuem mischt.

Siegfried Behrend wusste aus fremden Kulturen Kraft zu schöpfen, sie in die eigene Lebensenergie zurückfließen zu lassen. Aus der Fülle der Stationen, die er unermüdlich bereiste, ergaben sich ganz zwangsläufig Schwerpunkte, in denen sich Geistesverwandtschaft, Empathie, Wohlbefinden herauskristallisierten: Die italienische Lebensart, die barocke Grandezza mit der Proportion des „goldenen Schnitts“ zu verbinden wusste, die großherzige orientalische Gastfreundschaft mit ihrer Zelebrierung märchenhafter Genüsse, der filigran ritualisierte japanische Feinsinn für das ästhetische Zusammenspiel von Form, Farbe und Inhalt. Dies alles faszinierte ihn nicht nur, sondern er versuchte es nachzuleben, ohne in imitatorische Posen zu verfallen.

Eine neue Generation von Gitarristen ist herangewachsen, gut ausgebildet, virtuos, mitunter brillant. Doch Siegfried Behrend war jemand, der über die sechs Saiten seiner Gitarre auf die vier Himmelsrichtungen zu schauen gewohnt war. Und auch die angebliche Weisheit, jeder sei irgendwann ersetzbar, findet an seiner geradezu eruptiven Kreativität und Umtriebigkeit ihre Grenzen. Ein ebenbürtiger Nachfolger hat sich jedenfalls noch nicht eingefunden.

Manuel Negwer 
zuerst in: Siegfried Behrend – Stationen, Hrsg. Helmut Richter, 2000


Siegfried Behrend – Stationen
Herausgegeben von Helmut Richter
mit Beiträgen von Manuel Negwer,
Michael Tröster, Rüdiger Grambow,
Marc Boettcher, Matthias Henke
2. Auflage
200 Seiten
Paperback € 9,95
ISBN: 3746056527
Books on Demand
E-Book (epub) € 5,49
EAN: 9783748114321

Stark erweiterte und aktualisierte Neuausgabe des Buches Stationen anlässlich des 85. Geburtstages von Siegfried Behrend im November 2018. Mit zahlreichen Abbildungen und Verzeichnissen zum Leben und Lebenswerk dieser Ausnahmeerscheinung der Musik im Deutschland des 20. Jahrhunderts.